Mährchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen (KHM 4)
Schon gleich schon an vierter Stelle der Gesamtausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm kommt ein „Mährchen“, dass ich zwar schon manchmal gelesen habe (vor allem auch in meiner Kinderzeit !). Aber nie hatte ich Lust mich ernsthaft damit zu befassen. Was sollen diese blöden Horrorstories vom Verkleidungstheater des Küster bis zum toten Vetter im Bett? Die Grimms haben die Erstfassung ja auch noch ziemlich ausgeschmückt.
Manche Leute bezeichnen die Geschichte als Schwankmärchen. Da bin ich mir nicht so sicher. Es kommen auch viele Motive vor, die sonst eher für Sagen typisch sind. Und der Held macht klar eine Entwicklung durch. Natürlich könnte man wohl auch einiges Gescheites über die vorkommenden Symbole schreiben. aber worum geht es denn wirklich?
Erst kürzlich im Gespräch mit Freundinnen und Freunden ist mir das eine oder andere Assoziations-Licht angezündet worden.
Was sind die Qualitäten des Helden? Er geht grundsätzlich positiv an Abstossendes heran und kann irgendwie mit allem umgehen. Er zeigt Mitleid mit den Leichen und Ungeheuern, zumindest so lange, bis sie nicht ihm ans Lebendige gehen. Dann wird er gnadenlos.
Er wird immer wieder mit Toten konfrontiert. Nimmt er selber den Tod zu wenig ernst? Zumindest geht er mit ihnen um, wie wenn sie gar nicht tot wären. Manchmal verhalten sie sich richtig (die gehenkten), manchmal aber zeigen sie auch lebendige Reaktionen (der tote Vetter).
Feuer hat er immer dabei, um sich und die anderen zu wärmen. Allerdings verpufft seine Wärme: seine Begegnungen sind alle tot oder sonstwie „unlebendig“. Und am Schluss löscht die Magd seiner Frau das Feuer?
Das Wort „Gruseln“ gäbe auch zu reden. Was ist damit gemeint? Der Märchenheld fürchtet nichts, hat auch keine Angst (Kierkegaard). Muss er da etwas lernen? „Cool sein“ ist doch auch eine Haltung. Die Psychotherapeutin B. Diepold (http://www.diepold.de/barbara/diese_wut.pdf) berichtet in einem Aufsatz von einem traumatisierten Kind, dass immer wieder dieses Märchen hören wollte, um an seine Gefühle heran zu kommen.
Wenn’s schon dem Helden nicht gruselt, soll es dafür umso mehr dem Leser (z.B. mir als Kind) gruseln? „Gfürchiges“ hat ja auch eine grosse Faszination: no fear, no fun.
Das Märchen ist ja eine rechte Männergeschichte. Erst nach der Hochzeit, also der Integration des fehlenden Weiblichen, erlebt der Held das Gruseln. Er findet Zugang zu seinen (symbolisch gesehen) weiblichen Seiten und kann jetzt starke Gefühle (Wasser und Fische) wahrnehmen. Also war das oben erwähnte Mitleid eher rational als ein Gefühl. Erst jetzt findet er den Zugang zu seinen Gefühlen und kann eine Schwäche eingestehen. Und mit den Fischlein kommt er wohl auch in Kontakt mit seiner Sexualität.
Als Ironie des Schicksals: Nur dank seiner Furchtlosigkeit bis zuletzt, kann er die Königstochter heiraten, deren Magd ihn das Gruseln lernt.
Sicher liegen wir richtig, wenn wir die Geschichte als Darstellung eines Reifungsprozesses verstehen, auch wenn nicht alle Begebenheiten schlüssig zu interpretieren sind.